Diese Rede hat mir ja vielleicht Kopfzerbrechen bereitet! In der Regel geht das etwa so (und mit geringen Kopfverletzungen): ich besuche den Künstler und die Künstlerin im Atelier, schaue mir die Bilder, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen und Objekte an, führe intensive und aufschlussreiche Gespräche mit den Künstlern, fahre nach Hause, suche Verbindungen zu mir Bekanntem, zu Motiven und Ideen in der Kunstgeschichte, lasse mir alles durch den Kopf gehen, füge meine Eindrücke und Gedanken hinzu, die von den Kunstwerken ausgehen, schreibe alles nieder und bringe es am Abend der Vernissage Ihnen zu Gehör. Aber was mache ich, wenn es 22 Künstler sind, die sich an einer Ausstellung beteiligen? Stellen Sie sich vor, ich würde in der vorgestellten Form über jeden Einzelnen sprechen - Sie würden über kurz oder lang einschlafen oder kollabieren - je nach Ihrer Konstitution. Alternativ dazu könnte ich die Werke von Mo Kleinen, die Skulpturen von Wolfgang Hahn herauspicken, die Fotografien von Ellen Katterbach oder die Objekte von Brigitte Zarm - aber da würden nicht nur Dagmar Reichel, Karl-Heinz Heming, Anne Behrens oder Uwe Mitzkeit protestieren - und das zu Recht, zeigen sie doch ebenso sehenswerte Bilder, Plastiken und Scherenschnitte. Was tun? Im letzten Jahr habe ich über das kulturelle Leben in der vermeintlichen Provinz gesprochen und über das lobenswerte private Engagement der Veranstalterinnen. Sowohl Provinz als auch das erstaunliche Engagement existieren immer noch - aber es wäre arg einfallslos, dies wieder zum Thema meiner Rede zur heutigen Vernissage zu machen. Apropos Vernissage (wussten Sie eigentlich, dass, gibt man das Wort in die Suchmaschine Google ein, in 0,10 sec 2.930.000 Einträge erscheinen?): der Begriff kommt vom französischen vernis, das zum deutschen Firnis geworden ist, eine Art Schutzschicht für Ölbilder. Bei einer Vernissage, einer Ausstellungseröffnung, gibt es also frisch gefirnisste Bilder zu sehen. Der Begriff suggeriert 1. dass die Bilder noch taufrisch sind und 2. der Maler dem entsprechend ein Lebender ist, der soeben sein Werk vollendet hat - ein anwesender Zeitgenosse wie die Maler und Malerinnen Rolf Erkens, Margot Buscher, Regina Hegemann, Friederike Hinz und Christiane Koken, die heute Abend hier vertreten sind. Auf einer Vernissage treffen diese Künstler auf ein kunstinteressiertes Laienpublikum (hoffentlich), im besten Fall auf finanzkräftige Sammler, auf Kunstkritiker, möglicher Weise auf Galeristen und aktuelle oder zukünftige Kuratoren. Jeder kommt mit einer anderen Erwartung an den Abend und an die ausgestellten Arbeiten: das interessierte Publikum will was Schönes sehen, Leute treffen, einen netten Abend haben, der Sammler sucht, was zu seiner Sammlung passt und ihm neben dem Genuss auch zu Ansehen verhilft, der Galerist denkt an Entdecken und Vermarkten, der Kurator an Entdecken und erneutes Ausstellen, was auch ihm zu Ansehen und Ruhm gereichen mag und der Künstler und die Künstlerin: Sie wollen doch wohl in erster Linie vorstellen, woran sie mit Ernsthaftigkeit und Ausdauer, mit Witz und Humor, mit Können und Einfallsreichtum, mit Sachverstand und unter Einbeziehung biographischer, gesellschaftpolitischer, sozialkritischer Aspekte arbeiten. Sie erhoffen sich Resonanz vom gesamten Publikum, Nachfragen, Kritik, Lob selbstverständlich. Natürlich erhoffen auch sie sich Verkäufe, weitere Ausstellungen und Ruhm und Ansehen - wenn sie nicht zu frustriert von der Teilhabe am Kunstbetrieb sind. Sie - die Künstlerinnen und Künstler - stehen heute Abend im Vordergrund, sie und ihre Arbeiten, wie auch Hilse Reinhardt und ihre Schmuckobjekte, Anne Stapf mit der Porzellanmalerei, Heidrun Pielen mit ihren Skulpturen, Karin Poltoraczyk und ihre Fotografien, Jürgen Drewer mit seinen Bildobjekten, Roberto Kocchius mit Schmuck und Bildern und Viktor Brizuela und seine Zeichnungen (Übrigens: wenn Sie nun höchst konzentriert mitgehört und mitgezählt haben, konnten Sie feststellen, dass ich nun wenigstens alle Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Namen und ihrer jeweiligen Technik erwähnt habe!). Leider gerät der Aspekt "Kunst gucken" während einer Vernissage gelegentlich unter die Räder: da steht dann Sehen und Gesehen-Werden im Vordergrund, manch ein Lokalpolitiker nutzt die Gelegenheit zum Bad im Volk (sozusagen), Sekt, Wein, Häppchen und die Kleidung der übrigen Anwesenden werden intensiver betrachtet als die Kunstobjekte. Und die Gespräche drehen sich viel mehr um Urlaub, Wetter, Benzinpreise und ähnliches als um die Themen, Motive und Techniken der ausgestellten Werke. Vielleicht hat das auch mit der Scheu eines breiten Publikums zu tun: sie scheuen davor zurück, Fragen zu stellen, die ihnen auf der Zunge liegen, aus Angst davor, unwissend zu wirken und ihres Platzes im Kunstbetrieb, ihrer Teilnahme an einer Vernissage nicht würdig zu sein. Aber was lernten wir schon in der Schule: es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten! Eine Vernissage ist eine wunderbare Gelegenheit, ins Gespräch über Kunst zu kommen (alle anderen Themen würde ich mir nicht anmaßen zu verbieten!). Mit dem Künstler in erster Linie, aber auch mit dem Mann und der Frau, die neben Ihnen steht! Kunst birgt so unendlich viele lebensnotwendige Aspekte in sich, einer davon ist die Möglichkeit, ja geradezu die Aufforderung zur Kommunikation. Die Kunst genießen, den Wein nicht verachten, die Kunst hinterfragen, den Künstler oder einen anderen Gast befragen, sich austauschen, neue Erkenntnisse gewinnen - solch einen Vernissagenabend wünsche ich Ihnen.
©Sigrid Blomen-Radermacher
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Eröffnung der Ausstellung "Tag der Kunst06" am 23. Juni 2006 |